Wann ist ein Mann ein Mann?

Aufgrund der aktuell in unserer Gesellschaft geführten Diskussion über toxische Männlichkeit habe ich mir die Frage gestellt, was einen Mann auszeichnet. Ich beleuchte diese Frage aus zwei unterschiedlichen Perspektiven, einer theologischen und einer transaktionsanalytischen. Abschliessend versuche ich mich an einer persönlichen Antwort.

Hi Madam, I'm Adam

Rabi Daniel Lapin lehrt in seinem Podcast „Hi Madam, I’m Adam“ eine Schöpfungstheologische Sicht auf die Ehe zwischen Mann und Frau. Er hält fest, dass es in der Bibel zwei Schöpfungsberichte gibt, die er mit Blue Prints des Universums vergleicht. Wie es für ein Gebäude mehrere Pläne gibt (Statik, Elektrizität, sanitären Leitungen, usw.), so berichtet die Bibel aus einer physischen, materiellen und aus einer spirituellen Perspektive.

Aus der ersten Perspektive sind Mann und Frau biologisch mit einem menschlichen Körper geschaffen, der sich grösstenteils ähnlich ist. In der ersten Schöpfungserzählung werden beide  gleichzeitig erschaffen, gesegnet und beauftragt. Als menschliche Wesen haben sie ähnliche Bedürfnisse und unterscheiden sich nicht gross voneinander.

Der zweite Schöpfungsbericht hat einen anderen Fokus, welcher auf dem Menschen und seinen spirituellen Bedürfnissen liegt. Dort wird zuerst der Mann aus der Erde geformt und mit Atem des Lebens eine lebendige Seele. Sein Name Adam, ein Eigenname erst ab 1. Mose 3, ist das hebräische Wort für Mensch und bedeutet von der Erde (Adamah) genommen. Der Mensch (Human) ist sowohl materiell, Erde (Humus), als auch immateriell, geistlich.

Nach seiner Erschaffung, legt Gott einen Garten für den Menschen an und setzt ihn dort hinein. Gott stellt fest, dass es nicht gut ist, dass der Mensch alleine ist. So erschafft er alle Tiere und bringt sie zu ihm, dass er sie benenne. Darunter findet der Mensch kein Gegenüber. Erst nachdem er dies erkannt hat, ist er bereit für seine Frau.

Darauf lässt Gott den Menschen in einen tiefen Schlaf fallen, entnimmt ihm eine Rippe und formt daraus die Frau. Er bringt sie zu ihm. Im Angesicht der Frau erkennt der Mensch, wer er ist. Er nennt die Frau Ischah und sich selbst zum ersten Mal Isch. Daniel Lapin fügt hier eine Szene ein und lässt den Mann sich vorstellen: „Madam, I’m Adam“ und die Frau fragen: „Hi, where am I?“

Dies ist ein Hinweis auf das spirituelle Bedürfnis des Mannes. Da er zuerst da war, kennt er die Umgebung, in die er gestellt wurde. Er hat alle Tiere benannt und Gott als Schöpfer kennengelernt. Er geniesst den Heimvorteil, weil er zuerst erschaffen wurde. Sein spirituelles Bedürfnis ist es, gebraucht und gefordert zu werden.

Die Frau beginnt den Mann zu respektieren und will ihn respektieren, weil er zuerst da war und ihr erklären kann, wo sie ist. Er kann ihr Orientierung geben. Die Frau fühlt sich beschützt, wertgeschätzt und geliebt. Das ist ihr spirituelles Bedürfnis. Wie kann sie ohne diese Sicherheit riskieren, mit jemandem zusammenzukommen, der physisch stärker ist, als sie? Oder sich der Verwundbarkeit der Schwangerschaft aussetzen? Der Mann muss seiner Frau glaubhaft versichern können, dass er fähig ist, für sie zu sorgen. Er muss ich ihr als würdig erweisen.

Durch das Erscheinen der Frau in seiner Wirklichkeit, erkennt der Mann seine neue Identität und wird zum Isch, zum Ehemann. Er macht eine Selbstaussage in 1. Mose 2,23: „Der freute sich und rief: »Endlich! Sie ist’s! Eine wie ich![7] Sie gehört zu mir, denn von mir ist sie genommen.« GNB 2018

Spirituelle Bedürfnisse

Ich sehe den Mann sowohl als physisches Wesen, in seiner Biologie, als auch seine spirituellen Bedürfnissen. Meiner Meinung nach wurde die männliche Sexualität mit einer eindeutigen Absicht von Gott geschaffen: zur Zeugung von Kindern. Nun ist ein Mann nicht nur in seinen Geschlechtsmerkmalen Mann, sondern in jeder Zelle seines Körpers ist der biologische Bauplan, die DNA, eines Mannes enthalten. In dieser Hinsicht findet die Männlichkeit ihre tiefste Bestimmung, ihre Erfüllung und ihr Gefäss im Gegenüber der Ehefrau. Dort entfaltet sie ihre schöpferische, ihre Leben vervielfältigende Kraft, neben der Beziehung stärkenden und Bindung fördernden Wirkung. (1 Thessalonicher 4,4)

Im Mann wohnt das spirituelle Bedürfnis inne, für seine Frau da zu sein, ihr Sicherheit und Orientierung zu geben. Er wünscht sich, gebraucht und gefordert zu werden. Er braucht es respektiert zu werden, wie die Luft zum atmen.

Genderskript

Woher weiss denn der Junge und heranwachsende Mann, was ein Mann ist? Die Transaktionsanalyse verweist hier auf das Genderskript. Das Gender- oder Geschlechterskript ist eine geschlechtsspezifische Form des unbewussten Lebensplanes eines Menschen und beschreibt, wie ein Mann oder eine Frau ist und wie er oder sie sich verhält.

Diesen unbewussten Lebensplan entwickelt der Mensch unbewusst als eine Reaktion, Schlussfolgerung oder Entscheidung auf seine Lebensumstände und Erfahrungen, besonders intensiv in den ersten sechs Lebensjahren. Später wird er verfeinert und gefestigt. Das geschieht durch wiederholen. Das Skript enthält Leitsätze, wie z.B. „Traue niemanden!“ oder „Wenn es darauf ankommt, stehe ich alleine da.“ Es beinhaltet „Lieblingsgefühle“ oder vertraute Verstimmungen wie. z.B. Einsamkeit oder Trauer.

Der Mensch, egal welchen Geschlechts, sucht unbewusst Situationen, in denen sich das Skript bewähren kann oder in denen er das Lieblingsgefühl erlebt. Das verschafft ihm Sicherheit, weil es vertraut ist. So verhält es sich auch mit dem Genderskript. Es schafft Sicherheit und ist bekannt.

Beispiel

Wenn beispielsweise ein Junge den seelischen Hunger nach Liebe, Zuwendung oder Respekt nicht erhält, versucht er diesen zu stillen, indem er mit Leistungen brilliert, seinen Mut beweist oder sich als besonders liebenswürdig erweist. Dabei orientierter er sich zuerst an seinem Vater und anderen erwachsenen Männern, erstrebenswerten Vorbildern und „Helden“. Sind diese nicht vorhanden, dann auch an älteren oder gleichaltrigen Kameraden. Durch nachahmen dieser Vorbilder, lernt der Junge, wie sich ein Mann verhält. Er erprobt diese Vorgehensweisen und leitet daraus „erfolgreiche“ Verhaltens-, Denk- und Gefühlsmuster ab. Dabei geht er sehr kreativ vor.

Als heranwachsender oder erwachsener Mann greift er in Stress- oder Krisensituationen auf diese früh entwickelten Muster zurück, was von anderen Erwachsenen als irritierend, unpassend oder kindhaft wahrgenommen werden kann. Es kann vielleicht unbeholfen, grossspurig, draufgängerisch, Macho-haft wirken. Oder auch arrogant, selbstverliebt, überheblich.

Der besagte Mann ist sich nicht bewusst, dass er nicht aus seinem vollen Potential schöpft. Er ist zurückgeworfen, oder besser, beschränkt sich selbst, auf eine frühere Situation, welche der aktuellen ähnlich ist. Er denkt, fühlt und handelt entsprechend. Dabei orientiert er sich an Vorbildern, welche bei ihm bleibenden Eindruck hinterlassen haben.

Erwachsen werden

Wird er sich dessen bewusst, oder macht ihn jemand darauf aufmerksam, kann er sein Erwachsenen-Ich einsetzen. Das Erwachsenen-Ich ist eine innere Ressource, welche das Denken aktiviert. Es ist die menschliche Fähigkeit, zu reflektieren.

Er wird sich seiner Möglichkeiten bewusst. Er wird gewahr, dass er selbst entscheiden kann, wie er in der aktuellen Situation, denken, fühlen und handeln will. Er hat die Freiheit zu prüfen, zu beurteilen und zu wählen, was er eigentlich will. Er steigt aus seinem Skript aus und wird authentisch sich selbst.

Aus seinem Erwachsenen-Ich prüft der Mann bewusst seine „Vorbilder“, ob positiv oder negativ, denen er Bedeutung zugemessen hat. Er zieht seine selbst entwickelten, frühen Strategien zu Rate. Im Idealfall nimmt er die aktuelle Situation bewusst wahr, denkt über mögliche Folgen nach und entscheidet sich schliesslich für seinen nächsten Schritt. Dafür übernimmt er auch die volle Verantwortung.

Diese Darstellung von Autonomie ist nicht allein dem Mann eigen, sondern auch der Frau, ja dem Menschen ganz allgemein. Ich wende sie in diesem Zusammenhang beispielhaft auf den Mann an.

Potential

Ich verstehe Männlichkeit als Potential. Sie ist zu jedem Zeitpunkt vorhanden. Sie ist Kraft in Möglichkeit. Männlichkeit ist immer da. Sie ist darauf angelegt, präsent zu sein und Ausdruck zu finden. Sie ist nicht losgelöst und zum Selbstzweck.

Biblisch betrachtet ist sie Schöpfung und steht in Beziehung zum Schöpfer: Der Mann ist Sohn des himmlischen Vaters, ein Ausdruck der Identität des Vaters. Er ist Abbild, Ebenbild, in der physischen Welt sichtbar. (1 Mose 1,27)
Der Mann ist Bruder für seine Brüder: „Eisen schärft Eisen, genauso schärfen Männer einander.“ (Sprüche 27,17). Er ist Bruder für seine Schwestern. Er ist Vater für die ihm anvertrauten. Männlichkeit als Potential findet in diesen Beziehungsrahmen Ausdruck im Sinne von Präsenz, Kraft, Schönheit, Verlässlichkeit und Echtheit.

Wann ist ein Mann ein Mann?, fragt Herbert Grönemeyer im seinem Lied. Im Sinne meiner Antwort: immer.

Männlichkeit bedeutet meiner Meinung nach, seine Kraft und Stärke anderen anzubieten und sie einzusetzen. Sie bedeutet, für andere anwesend und sichtbar zu sein, sich nicht zu entziehen, sondern Verantwortung für sich selbst und seine Umwelt zu übernehmen. Männlichkeit bedeutet auch sein Potential anzunehmen, zu entwickeln, seine Fähigkeiten und sein Können anzuwenden mit gesundem Selbstvertrauen und gleichzeitiger Bewusstheit um Ergänzungsbedürftigkeit. Männlichkeit darf auch die Freude über sich selbst zum Ausdruck bringen, ihr geschaffen-sein annehmen und feiern.

So ausgelebt, wird sie zum Geschenk für das Umfeld, wie Familie, Frau, Freunde, Gemeinde, Arbeitskollegen und die Gesellschaft.

Wird sie jedoch im Eigensinn, nur zum stillen der eigenen Bedürfnisse und zur Selbstdarstellung oder reduziert auf den Wettbewerb und das Kräftemessen genutzt, verfehlt sie ihre innewohnende Schönheit und Wirksamkeit. Auf diese Weise schadet sie dem Mann selbst, wie auch seinen Nächsten.

Sind wir Männer dessen schuldig geworden und ist Schaden entstanden, müssen wir dafür die Verantwortung übernehmen und vielleicht andere um Verzeihung bitten. Damit aufzuhören ist der folgerichtige Schritt der Einsicht. Möglicherweise sollten wir Hilfe dabei in Anspruch nehmen.

Ermutigung

So ermutige ich männliche Leser, sich mit ihrem Mann-sein zu versöhnen, die eigene Männlichkeit anzunehmen und verantwortungsvoll einzubringen. Was auch immer die Schritte der Versöhnung im konkreten sein mögen, ich lade dazu ein, sie zu gehen, aktiv zu werden und einen gesunden Umgang mit der eigenen Männlichkeit zu leben.

Marco Wahrenberger, 20.2.2025