Meine zwei Themen-Schwerpunkte, die meine Arbeitsweise in der psychosozialen Beratung, dem Mentoring und der seelsorgerliche Begleitung kennzeichnen, lauten Wer bin ich? und Wie lebe ich gelingende Beziehungen? Diese zwei Fragen setzen sich mit Identität und Beziehung auseinander.
Ich gehe hier auf die erste Thematik, die Identität, ein. Sowohl auf persönliche als auch auf fachliche Weise beleuchte ich das GANZ ICH SEIN.
Es entspricht einem tiefen Bedürfnis von mir, „ganz ich“ zu sein. Deshalb hat mich das Buch von Peter Höhn „Ganz ich sein“ vor Jahren sehr angesprochen und ich habe es studiert. Der Autor beschreibt eine dreifache Berufung Gottes an den Menschen: Gott zu erkennen, Mensch zu sein und ganz ich zu sein. Anschliessend führt er aus, wie der Mensch auf diese Berufungen antworten und darin reifen kann.
Auf meinem Weg Gott zu erkennen, habe ich gelernt, besonders meine Beziehung zu ihm verstehen zu lernen. Als Fazit konnte ich annehmen, ganz Sohn zu sein. Immer wieder erinnert er mich daran. Dabei ist Jesus das Vorbild. Es ist für mich sehr entspannend, vertrauensvoll einfach Sohn sein zu dürfen und dabei zu wissen, dass Gott als der himmlische Vater hinter mir steht, mir Raum zum erkunden und entdecken schafft, sich über mich freut, mich liebt und mir einiges zutraut.
Was heisst denn ganz Mensch sein?, habe ich mich beim zweiten Teil der Berufung gefragt. Mensch bin ich ja einfach.
Die tiefere Bedeutung, ein Geschöpf Gottes zu sein, ist mir nach und nach aufgegangen. Ich habe verstanden, dass es einerseits Ehre bedeutet, nach dem Bild Gottes gemacht worden zu sein. Andererseits bedeutet es Begrenzung, die ich dankbar annehmen kann, wenn ich sie als entlastend verstehe. Ich muss gar nicht alles wissen, alles überblicken und kontrollieren können. Das wird gar nicht von mir erwartet. Ich darf einfach Mensch sein, meinem Schöpfer danken und mich freuen über all das Schöne und Gute, das er geschaffen hat.
„Ganz ich sein“ schliesslich bedeutet für mich, meine individuellen Gaben, Interessen, Stärken und Schwächen anzunehmen und mich weiterzuentwickeln. Es ist gut, dass ich bin, wer ich bin. Ich darf mich freuen über mein Aussehen, meine Persönlichkeit und meine Ecken und Kanten annehmen. Mit Gott zusammen darf ich mich auf den Weg machen, den er für mich bereitet hat. Selbst die Abenteuer und Herausforderungen hat er für jeden einzelnen Tag vorbereitet, dass ich darin wachse und reife, in seiner Kraft stärker werde und im Vertrauen in ihn zunehme.
In der Bibel sind mir zwei Stellen aufgefallen, wo von Menschen gesagt wird, dass sie GANZ sind oder sein sollen. Die erste Person ist Noah, von der es heisst, „Er war ein bewährter, ganzer Mann“. (Übersetzung nach Martin Buber, 1 Mose 6,9) Zu Abraham spricht Gott, in derselben Übersetzung, „sei ganz!“ (1 Mose 17,1)
Ich bin den Wortbedeutungen im Hebräischen nachgegangen:
תָּמִים tā·mîm vollkommen, ganz; makellos, untadelig, fehlerlos, einwandfrei
bez. 1 Mose 17,1: aufrichtig, fertig, ganz
bez. 1 Mose 6,9: ungetrübte menschliche Gottesbeziehung und das verlässliche, gute Verhältnis zum Nächsten
תָּם tām vollständig, vollkommen; fromm, rechtschaffen, unschuldig; gesund, ganz sein oder heil sein
rechtschaffene, untadelige Lebensführung; was Gott geopfert wird, soll untadelig, makellos sein.
צַדִּיק ṣǎd·dîq gerecht, recht; fromm, unschuldig
הלך hlk gehen; ziehen; kommen; fliessen
bez. 1 Mose 17,1: lebe! (Elberfelder); Geh einher… ! (Buber)
bez. 1 Mose 6,9 „…, mit Gott ging Noah um.“ (Buber)
Für mich persönlich bedeutet ganz sein, ungeteilt zu sein; keinen Lebensbereich vor Gott auszuklammern, mich ihm ganz hinzuhalten. Vor Gott kann ich ohnehin keine Geheimnisse haben und nichts vor ihm verbergen. Es bedeutet aber auch, meinem Raum einzunehmen und ganz auszufüllen, den er mir gibt. Ich soll mich nicht in falscher Bescheidenheit zurückhalten. Ich darf ganz da sein, mit meinem vollen Gewicht und meiner ganzen Präsenz. Ich darf mich niederlassen und einlassen auf Menschen, Beziehungen, Aufgaben, Verantwortung. Solange, bis Gott mich heisst, aufzubrechen und weiterzuziehen.
Aus transaktionsanalytischer Sicht bieten sich in Bezug auf „ganz sein“ verschiedene TA-Modelle an.
Zum einen ist das Strukturmodell eine Ganzheit in seiner Gesamtheit der drei Ich-Zustände (Kind-Ich, Erwachsenen-Ich und Eltern-Ich). Alle drei strukturellen Ich-Zustände zusammen stellen modellhaft den „inneren“ Menschen dar, in seinem Denken, Fühlen, Verhalten und seiner Körperwahrnehmung. Zu einer gesunden und ausgeglichenen Persönlichkeit gehören alle drei Ich-Zustände.
Zum anderen ist das integrierende Erwachsenen-Ich eine Ganzheit bestehend aus Ethos, Logos und Pathos. Eric Berne beschreibt es wie folgt:
- Ethos meint Überprüftes, ursprünglich Übernommenes von Eltern und Autoritätspersonen. Es wurde mehrfach erprobt und sich zu eigen gemacht. Eine Entscheidung ist ethisch, wenn sie die Selbstachtung fördert, die persönliche Integrität stärkt, unnötige Schranken abbaut, echtes Vertrauen schafft und die Verwirklichung menschlichen Potentials erleichtert, ohne anderen zu schaden. Berne nennt sie moralische Qualitäten, die nicht nur den lokalen Erwartungen, sondern dem weltweiten Ethos entsprechen.
- Logos meint das Hier und Jetzt, die Bewusstheit.
- Als Pathos beschreibt er den Charme und die Aufgeschlossenheit, mit den damit verbundenen bestimmten Gefühlen der Verantwortung gegenüber der übrigen Menschheit.
(nach TA in Psychotherapie 1961)
Die Förderung der persönlichen Autonomie, bestehend aus Bewusstheit, Spontaneität und Intimität, ist das Ziel jeder transaktionsanalytischen Arbeit. Sie stellt ebenfalls eine Ganzheit dar.
Unter Autonomie verstehe ich den freien Zugang zu allen Ich-Zuständen und die bewusste, situationsangemessene Nutzung im Hier und Jetzt. Nach Eric Berne bedeutet Autonomie „das Freiwerden oder Wiedergewinnen von drei seelischen Vermögen: Bewusstheit, Spontanität und Intimität.“ (Eric Berne, zitiert nach Stewart/Joines 2000: 380)
- Bewusstheit. Dieser Begriff meint „die Fähigkeit, Dinge als reine Sinneseindrücke zu sehen, zu hören, zu fühlen, zu schmecken und zu riechen, so wie das ein Neugeborenes tut.“ (:380) Ein Mensch mit dieser Fähigkeit, kann so in Kontakt sein mit den äusseren Reizen und seinen Körperempfindungen, ohne diese mit seinem Bezugsrahmen zu deuten oder zu filtern.
- Spontaneität bedeutet die Fähigkeit, frei aus einer grossen Palette von Alternativen im Denken, Fühlen und Verhalten auszuwählen. Ein solcher Mensch reagiert direkt, ohne Teile der Realität auszublenden oder umzudeuten. Er wählt frei und situationsadäquat. (:381)
- Intimität. Hier werden authentische Gefühle und Bedürfnisse geäussert, ohne etwas zurückzuhalten. Sie sind der Situation im Hier und Jetzt angemessen. Die Beteiligten übernehmen ihre Verantwortung in der Interaktion.
So verstanden, stellt Autonomie für mich den Inhalt und den Reichtum menschlichen Lebens dar. Ich sehe darin Lebendigkeit, Echtheit, Freiheit und Fülle. Autonomie ist immer auf das Hier und Jetzt bezogen und wird, aus dem ER-Ich gesteuert, ausgelebt.
Diese Art und Weise mein Leben zu gestalten, meine Ressourcen einzusetzen und mein Potential zu nutzen, sehe ich als „ganz ich sein“.